BUND Ortsgruppe Lippstadt / Erwitte
BUND Ortsgruppe Lippstadt / Erwitte
Hermann Müller

 Prof. Dr. Heinrich Münz

 

 

Prof. Dr. Hermann Müller (1829 - 1883) Lippstadt


Naturforscher und Pädagoge

1855 bis 1883 Lehrer an der Realschule in Lippstadt

(heute Ostendorf-Gymnasium)

 

Zum Gedenken an den großen Naturforscher und Pädagogen

 

Für Natur- und Umweltschützer ist es nichts Ungewöhnliches, bei Exkursionen plötzlich und unerwartet in unscheinbaren Ecken botanische oder zoologische „Schätze“ zu entdecken. Dem wachsamen Stadtwanderer in Lippstadt sticht vielleicht in ähnlicher Art und Weise am Nebeneingang des Stadttheaters ein kleiner Findling ins Auge. Er steht dort merkwürdig in der Landschaft und wurde sicher nicht von der Eiszeit hierher verschlagen! Wie bei einer Exkursion empfiehlt es sich, die Dinge näher zu betrachten. So lässt sich dann auf der kleinen Bronze-Tafel entziffern: „Dem Biologen Dr. Hermann Müller, Prof. am Ostendorf-Gymnasium“. Das seltsame Ambiente mit Gullideckel und Reklame um den Stein herum tut wenig zur Sache, erhöht eher ein bisschen die geschichtliche Dramaturgie, denn hier steht etwas ganz Besonderes: Ein Wegweiser zu einem kultur- und wissenschaftshistorischen Schatz in Lippstadt!

 

Nutzt man den Hinweis und „gräbt danach“, wird das Staunen mit jedem Spatenstich in die Geschichte größer! Es öffnet sich der Blick auf eine Person, die in Lippstadts Geschichte, ja wahrscheinlich in der gesamten Bundesrepublik, seines gleichen sucht! Hier geht es um eine „Lichtgestalt“ der wissenschaftlichen Biologie und der naturwissenschaftlichen Pädagogik, die seltsamerweise irgendwie aus dem öffentlichen Bewusstsein Lippstadts verschwunden ist.

Müller - Gedenkstein
Enthüllung der Müller-Stele anlässlich der 25-Jahr-Feier

Wer war nun dieser große Mann?

 

Hermann Müller kam 1855 mit 26 Jahren nach Lippstadt an die städtische Realschule. Mit Julius Ostendorf  hatte diese Schule einen ausgewiesenen pädagogischen Reformer als Direktor und einen überregional anerkannten Ruf. Müller, in Mühlberg bei Erfurt geboren, hatte in Halle und Berlin alle naturwissenschaftlichen Fächer studiert, beschäftigte sich aber vorzugsweise mit Botanik, Geologie und Entomologie. Promoviert hatte er mit einer geologischen Arbeit (mineralische Pseudometamorphosen) in Jena und erste Erfahrungen in schulischer Tätigkeit sammelte er in Schwerin.

 

In Lippstadt ergänzte Müller seine pädagogische Tätigkeit konsequent mit weiteren wissenschaftlichen Studien. Die Lippeaue, die Soester Börde und der Haarstrang waren damals bestens dazu geeignet. Müllers berühmter Schüler, Wilhelm Wetekamp (einer der Gründer des deutschen Naturschutzes) beschrieb 1929 in einem Rückblick auf das Lippstadt zur Zeit Müllers und seiner eigenen Schulzeit: „Die Gegend von Lippstadt war damals ein Dorado für Botaniker und Zoologen....es gab noch Wiesen und Kämpen, ausgedehnte Heiden, Moore, Laub- und Kiefernwald“[1]. Dazu kamen die Kalkformationen des Haarstrangs mit Schledden und Dolinen, alles Geo- und Biotope von besonderem Wert! Hier fand Müller für sich und seine Schüler ein naturkundliches „Außenlabor“. Seine Freizeit in den Sommerferien nutzte er zu botanischen und geologischen Studien in den Alpen. Zu seinen Alpenexkursionen nahm er öfters Schüler mit! Die Alpenflora war sein favorisiertes Studienobjekt und bei einer Studienreise, am Fuße des Ortlergebirges in Südtirol, verstarb er am 25.8.1983 plötzlich an einer Lungenkrankheit. Er wurde in einem Ehrengrab in Prad/Tirol beerdigt.  

 

Nur ein guter, wissenschaftlich interessierter Gymnasiallehrer?

 

Seine außerordentlichen naturwissenschaftlichen Leistungen stellen ihn weit über die schulische Normalität. Die Verleihung des Professorentitels kurz vor seinem Tod charakterisiert nur schwach den tatsächlichen Wert und die internationale Resonanz seiner Arbeit!

 

Fasziniert und angeregt von Darwins neuer Sicht auf die Entwicklung der Arten erkannte Müller als erster mit seinen wissenschaftlichen Studien, dass sich Blütenpflanzen und bestimmte Insekten stammesgeschichtlich in gegenseitiger Anpassung entwickeln. Er entdeckte damit das Phänomen der „Koevolution“, und die wechselseitigen Zusammenhänge in der belebten Natur. Kurz nach Erscheinen von Darwins epochemachendem Werk „On the Origin of Species by Means of Natural Selection...“ (1859) fand Hermann Müller Darwins Theorie zum Wirken der Evolution von vielen seiner eigenen Studien gestützt. Er begann einen wissenschaftlichen Briefwechsel mit Charles Darwin, in den auch sein Bruder Fritz Müller einbezogen war. Fritz Müller lebte als Naturforscher in Brasilien, wurde von Darwin hoch geschätzt und untermauerte die noch junge Evolutionstheorie durch eine Vielzahl von neuen Befunden. Die fachwissenschaftliche Größe von Hermann Müller zeigt sich insbesondere in seinen botanischen Studien an Moosen und Blütenpflanzen und in entomologischen Erstbeschreibungen. Eine Orchideenart (Epipactis mülleri) trägt seinen Namen. Über 100 wissenschaftliche Originalarbeiten (drei davon Bücher) darunter mehrere Publikationen in der englischen Zeitschrift „Nature“, dokumentieren noch heute sein wissenschaftliches Niveau und seine Arbeitsgrundsätze: Genaues Beobachten, präzises Dokumentieren und kritisches Interpretieren. Müllers botanische Sammlungen dienen teilweise immer noch als Referenz und seine äußert präzisen Zeichnungen lassen sich noch in neuen botanischen Büchern finden![2] Die außerordentliche Qualität seiner Forschung machte Müller auf internationaler wissenschaftlicher Ebene bekannt. Charles Darwin würdigte ihn in einem Brief: „Hermann Müller ist ein so exakter Beobachter und scharfer Denker, dass ich immer zögere etwas zu veröffentlichen, wenn ich nicht mit ihm übereinstimme.....“.  Darwin schrieb auch das Vorwort zur englischen Übersetzung von Hermann Müllers Hauptwerk „Die Befruchtung der Blumen durch Insekten“. Als Hermann Müller 1883 auf einer Studienreise in Südtirol plötzlich starb, erschienen in den beiden, noch heute berühmtesten internationalen naturwissenschaftlichen Zeitschriften, „Nature“[3] und „Science“[4], Nachrufe auf diesen großen Forscher an Lippstadts städtischer Schule! In „Science“ wurde er als ein Biologe beschrieben, der als „epoch-maker“ bezeichnet werden kann....

 

Kaum bekannt und bisher wenig wissenschaftlich ausgewertet sind Hermann Müllers große pädagogische Verdienste. So entstanden unter seiner Federführung an Lippstadts Realschule I. Ordnung (heute Ostendorf-Gymnasium) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ideen zum naturwissenschaftlichen Unterricht, die Würdigung in „Nature“ erhielten! Wahrscheinlich ist die Erwähnung des Lippstädter naturwissenschaftlichen Lehrplans von 1876 in „Nature“[5] eine Einmaligkeit für eine deutsche Schule. Hermann Müller führte als erster Pädagoge in Deutschland Darwins Theorie zur Abstammung im schulischen Unterricht ein. Er verteidigte – nach schwerer öffentlicher Diffamierung und Verurteilung ( „Lippstädter Fall“) s.u. - die Notwendigkeit, sich im Unterricht in den höheren Klassen auch mit Darwins Hypothese zur Evolution zu beschäftigen[6]. Müller legte großen Wert auf praktischen und direkten Anschauungsunterricht. Feldbeobachtungen, Dokumentation am Objekt waren seine Sicht von naturkundlichem Unterricht. Über seinen Bruder Fritz Müller in Brasilien, aber auch durch seine umfangreichen wissenschaftlichen Kontakte und natürlich auch durch die eigene Feldforschung entstand in der naturwissenschaftlichen Sammlung des Ostendorf-Gymnasiums ein Fundus von biologischem und geologischem Anschauungsmaterial, der weit über das Normale einer Schule hinausging. Die Sammlung wurde ergänzt, durch eine umfangreiche Bibliothek. Teilweise sind die inzwischen wertvollen Bände noch heute in Lippstadt vorhanden, eine deutsche Übersetzung von Darwins „On the Origin of Species...“mit Widmung vom Autor aus Hermann Müllers Bibliothek steht im Angebot eines englischen Antiquariats mit fünfstelligem Preis! Müller führte in der biologischen Unterrichtsgestaltung einen Paradigmenwechsel durch. Die für seiner Zeit typische reine Sammlung und Klassifizierung biologischen Materials erweiterte er erstmals mit Betrachtungen zu „Zusammenhängen“, ergänzte die vergleichende Systematik mit allgemeinen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten und Konzeptbildungen. Diese Art von schulischer Vermittlungsform von biologischem Wissen war völlig neu, förderte bei seinen Schülern neue Einblicke in die Wechselbeziehungen der Natur, zeigte unser „Eingebundensein“ in biologische und ökologische Vorgänge, wirkte motivierend, war interessant. Sein Unterricht kann rückblickend als wegweisend für den modernen naturwissenschaftlichen Unterricht gesehen werden! Der Einbezug wissenschaftlicher Forschung in den Unterricht lag Hermann Müller anscheinend sehr am Herzen, er sah dieses als Aufgabe des gymnasialen Lehramtes. Als Abonnent von „Nature“ machte er Schüler über diese Zeitschrift mit aktuellsten internationalen wissenschaftlichen Arbeiten bekannt, band die Entwicklung naturwissenschaftlicher Ideen und Fortschritte in sein pädagogisches Wirken ein. In seinen später berühmten Schülern E. Dennert, W. Breitenbach und W. Wetekamp,  - sie spielten in der Geschichte der Pädagogik, in der Theorienbildung der Biologie und in der Begründung eines öffentlichen Naturschutzbewusstseins wesentliche Rollen - spiegeln sich Resultate dieses pädagogischen Bemühens.

 

Und warum ist er nahezu vergessen?

 

Heute wie damals ist es nicht unproblematisch, sich gegen „main-stream“ Sichten in der Gesellschaft zu stellen und etablierte Weltbilder zu hinterfragen. Dieses gilt besonders im schulischen Amt. Darwins Theorie zur Entwicklung der Arten erschütterte im 19. Jahrhundert die wissenschaftliche und populäre Weltsicht. Wenn schon Kopernikus die Erde aus dem Zentrum des Kosmos holte, gingen mit Darwins Theorien zentrale Grundfesten der geistesgeschichtlichen Sicht der menschlichen Stellung im Tierreich in die Brüche. So etwas verlief nicht ohne gesellschaftliche Eruptionen, führte auf allen geistigen Kulturebenen zu Verwerfungen, resultierte in erbitterten politischen Gefechten. Mit dem Vorhaben, Schülern die Darwinschen Hypothesen näher zubringen, wurde Hermann Müller in diese Auseinandersetzungen gezogen. Von einem Schüler bei einem Lippstädter katholischen Geistlichen denunziert, brachte dieser eine publizistische und politische Maschinerie in Gang, die Müller fast seine schulische und ökonomische Existenz gekostet hätte. Über den sog. „Lippstädter Fall“ debattierte das preußische Abgeordnetenhaus in Berlin! Müller geriet in die politischen Mühlen des Kulturkampfes, blieb in der Rechtfertigung gegen die Anfeindungen aber seinen pädagogischen Sichten treu und in seiner Wesensart charakterlich fest und gradlinig. Letztendlich gewann Müller die Verleumdungsklagen gegen die Presse. 1883, kurz vor seinem Tod wurde er wegen seiner wissenschaftlichen und pädagogischen Verdienste noch mit dem Professorentitel bedacht. Doch nach den Querelen des „Lippstädter Falls“ erhielt er in Lippstadts öffentlichem Gedächtnis, wenn überhaupt,  nur abwertend als „Affen-Müller“ einen Platz[7]. Und so fing das Vergessen an.....

 

Mit dem Tod Hermann Müllers endete eine Ära internationaler wissenschaftlicher Aktivitäten und Anerkennung an Lippstadts städtischem Gymnasium. Seine Schüler legten ihm zu Ehren und zum Gedächtnis einen Findling an den Eingang des alten Gebäudes des Ostendorf-Gymnasiums. Dieser Stein, der nach Abriss des Schulaltbaus nun etwas unplatziert am neuen Theater steht, beinhaltet irgendwie symbolhaft Hinweise auf  Wesen und Werk dieses großen Naturforschers und Pädagogen: Steine und Mineralien hat er gesammelt, für seine wissenschaftlichen Sichten war er Fels in der Brandung, ein bisschen wird auch an seine geliebten „Alpengipfel“ erinnert, seine Schule und die Schüler sind nicht fern, als Findling überdauert man die Zeiten auch versteckt, und Moose und Flechten bedecken seine Oberfläche. Und sieht man als „Wanderer“ genauer hin, entdeckt man einen wissenschafts- und kulturhistorischen Schatz......[8]

 

Prof. Dr. Heinrich Münz

 

 

Die Naturschutzverbände des Kreis Soest (BUND, ABU, NABU) werden zusammen mit dem Ostendorf-Gymnasium zum Gedenken im 125. Jahr seines Todes dafür sorgen, dass in Zukunft seine geschätzten Blütenpflanzen den Gedenkstein umrahmen und Insekten in seiner Nähe sich wieder als „Blumenzüchter“[9)betätigen können. Prof. Dr. Hermann Müller hat uns noch heute viel zu sagen, wir werden den Schatz in Lippstadt  heben....


[1] Erschienen in den „Heimatblättern“, einer Beilage der Lippstädter Zeitung >Der Patriot<, 8.10.1929, Abschriften zusammengefasst von P. Hoffmann, Lippstadt, www.nabu-soest.de

[2] nach Prof. Dr. St. Schneckenburger Darmstadt in: Dieter Heß „Alpenblumen, erkennen, verstehen, schützen“ Ulmer Verlag 2001

[3] Nature; Sept.13, 1883; S. 462-463

[4] Science; Vol.11 No.36, 1883; S. 487-488

[5] Nature; April 27, 1876; S. 531

[6] „Die Hypothese in der Schule“ – eine Rechtfertigungsschrift im Zusammenhang mit dem „Lippstädter Fall“- Lippstadt 1879, veröffentlicht im Schulprogramm der Realschule I. Ordnung zu Lippstadt

[7] Lippstädter Spuren – Schriftenreihe des Heimatbundes Lippstadt 13/1998 „150 Jahre >Der Patriot< Geschichte einer Zeitung. S. 48-49

[8] Daten und Informationen dieses kurzen Aufsatzes stammen aus einer Vielzahl von Publikationen von und über Hermann Müller. OStR Mohrkramer vom Ostendorf-Gymnasium Lippstadt und Leiter des Schularchivs sei herzlich gedankt für die Unterstützung bei der  Literaturrecherche.

[9] Hermann Müller „Insekten als unbewusste Blumenzüchter I-III“, Kosmos. II Jahrgang 1878 Band III Heft 1 S.314-337;

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